Das Verhältnis von (Foto)Kunst und Öffentlichkeit im Stenogramm

Werner Fenz

Konzept eines frei gehaltenen Vortrags am 9.8.2003 anlässlich der Weinviertler Fotowochen 03.

Das 20. Jahrhundert ist – vor allem seit Mitte der 60er – nicht sosehr durch verschiedene Stilrichtungen und Strömungen charakterisiert, als vielmehr durch unterschiedliche Paradigmenwechsel.
1) An erster Stelle steht dabei die Verlagerung des Handlungsraums der KünstlerInnen, die sich immer wieder und mit unterschiedlichen Perspektiven aus dem White Cube verabschieden, um, wie es vor allem in den sechziger Jahren hieß, Kunst und Leben miteinander in Beziehung zu setzen.
2) Die Kunst strebt danach – auch in der Öffentlichkeit, im realen (urbanen) Raum -   einen dezidierten Kontext herzustellen, den die Moderne meist abgelegt hat. Mit dieser Vorgangsweise erfolgt im Grunde genommen ein Anschluss an frühere Jahrhunderte, allerdings nicht mit dem Anspruch politischer Machtdemonstrationen, weder im weltlichen noch im sakralen Bereich. Früher noch als in der "Kontextkunst" der neunziger Jahre in den traditionellen Kunstorten Museum und Galerie ablesbar wurde das Phänomen bei Installationen und Zeichensetzungen im Stadtraum sichtbar: Hier löste die Methode der site specifity die sogenannten "drop sculptures", die irgendwo im öffentlichen Raum aufgestellt wurden, ab. Den zunehmenden, unseligen Stadtmöblierungen sollte nicht künstlerisches "Möbelwerk" hinzugefügt werden, das verunglückte architektonische oder städtebauliche Gestaltungen kaschieren wollte oder musste.
3) Die Interaktion (der Begriff soll vorerst, nicht ausdefiniert, so stehen bleiben) trat in das Blickfeld der KünstlerInnen, wobei das Ziel vorwiegend auf der gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und  politischen Ebene lag und nicht das bloße In-Gang-Setzen von rein haptischen oder oberflächlichen Bewegungserlebnissen, die „Bedienung“ von mechanischen oder digitalen Maschinen meinte.
4) Der klassische Werkbegriff der Kunst wird durch den künstlerischen Handlungsbegriff ersetzt. Die „soziale Tat“ wird auch im Angesicht einer Politik, die aus der Kälte kommt und die durch diese Abstammung die Gesellschaft vereist, begangen.
5) Die Menschen werden als handelnde Partner und nicht als lebendige Objekte in ein gemeinsames Geschehen eingebunden.

Zu einzelnen Begriffen
Der interaktiven Installation, zu der manche Veranstalter auch die Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild und dem der unmittelbaren Umgebung zählen ("Die gespiegelte Stadt" – ein Beitrag für Graz 2003, Kulturhauptstadt Europas) stehen die partizipatorische Struktur und das kollektive Handeln gegenüber. Das heißt, der Betrachter muss sich nicht – wie in Lisstzkys „Umsteigestationen zwischen Malerei und Architektur", namentlich in seinem "Prounenraum" im Berlin der 20er Jahre -  physisch mit dem Raum und den darin ausgestellten Gegenständen auseinandersetzen, er muss auch nicht der konzeptuell-räumlichen Vernetzung von 7,5 cm breiten Streifen – auf städtischen Autobussen, auf Plakatwänden und in der Ausstellungshalle angebracht (Daniel Buren, Mönchengladbach 1971) – nachspüren, er muss sich auch nicht fragen, warum wetterfeste Beton-Kunstwerke auf verschiedene Orte und Un-Orte in der Stadt aufgeteilt werden: Ein oder mehrere Betrachter – nicht der Kunst, sondern des Lebens - sind im Rahmen eines Projekts von Anfang an Beteiligte.

Einwand 1: Wenn es um politische Komponenten geht, rücken immer stärker das Gefühl und die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber der Richtung von unten nach oben in den Mittelpunkt der Überlegungen.

Einwand 2: Wenn es um die „Arbeit mit anderen“ geht, können leicht verdauliche Häppchen des „Sozialen“ sehr leicht zum „Sozio-Chic“ (Christian Kravagna) führen.

Um nochmals auf die Begriffsebene zurückzukommen:
Vor allem im öffentlichen Raum (aber nicht nur dort) kommen – im Verhältnis zum normativen Kunstbetrieb – immer radikalere Bezeichnungen zur Anwendung:
Sorgte schon die Site Specifity der 80er Jahre, vor allem dann, wenn sie nicht als „Verschönerung“ begriffen werden konnte, weil sie einem inhaltlichen Bezugssystem verpflichtet war, für heiße Diskussionen, werden aktuelle Begriffe wie „Kunst des Öffentlichen“ oder „Kunst im öffentlichen Interesse“ als provokante oder gar „falsche“ Formulierungen eingestuft: In erster Linie von jenen, denen der in die Gesellschaft integrierte Status der Kunst unheimlich, wenn nicht gar verdächtig erscheint.  

Welche Auswirkungen haben die bisherigen, in Stichworten vorgetragenen,  Überlegungen auf die Bildkünste, zum Beispiel auf die Fotografie?
Uns allen ist die „soziale Fotografie“ seit den 60er und 70er Jahren vertraut: Oft im Stil einer schwarz-weißen, mit poetischem Touch versehenen Melodramatik.
Martha Rosler hat in diesem Zusammenhang und generell von einem Schauplatz der Opferfotografie gesprochen: „...desto tiefer klafft der Graben zwischen dieser gehabten Form der Dokumentation und einer anderen, die eingebettet ist in eine explizite Gesellschaftsanalyse und, zumindest in Ansätzen, in das Programm einer Gesellschaftsveränderung. Die liberale Dokumentation, die die Angehörigen der aufstrebenden Schicht dazu bewegt, Mitleid zu zeigen und Unterdrückten zu helfen, gehört der Vergangenheit an“ (Positionen der Lebenswelt, 1999).

Wir kennen die Reisefotografie auf der Fahrt zu fremden Kulturen – aber kennen wir in einem überwiegenden Teil der Bilder die Kultur des Fremden, des Anderen, des Ungewohnten?

Einige der zahlreichen Paradigmenwechsel, die sich in der Fotografie ausmachen lassen, zielen verständlicher Weise auf das Motiv:
Das Motiv wird, im traditionellen Sinn, verweigert
Das Motiv der Handlung kreiert das fotografische Motiv. Ein formal-ästhetisches Absolutum tritt hinter die Motivation zurück. Dies ist in erster Linie auch vor dem Hintergrund standardisierter Greuel oder Seitenblicke-Darstellungen zu beobachten. Damit wird, wie bei den Denkmälern, die Imprägnierung gegen Aufmerksamkeit (Musil) angesprochen.
Das Foto als künstlerische Aktie wird von der Reflexion über Bildstatus und dessen kulturell entscheidenden Wahrheitsgehalt, über Persönliches und Öffentliches, über Zeit, Erinnerung und die damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten und –chancen in einer normativ geprägten Alltagswelt abgelöst (Eines der möglichen Beispiele: Helmut und Johanns Kandl, „Grenzüberschreitende“ Bildanalysen von Urlaubsfotos unter Einschluß der Wahrnehmung von veränderter Sozietät im Grenzgebiet Österreich - Tschechien)

Hier setzt ein nicht unwesentliches Faktum ein, das aus der Fotografie wieder in den gesamten Kunstraum führt und das ich Überschreiten der „Differenzierungsschwelle“ nennen möchte. Darunter ist zu verstehen, dass sich das künstlerische Zeichen in seiner Gestalt nicht auf Anhieb von der Alltagsästhetik unterscheiden lässt. Es taucht mit dem Anspruch auf Irritation in der Lebenswelt auf, ohne sich als Kunst erkennen zu geben. Die damit verbundene Aufmerksamkeit richtet sich in erster Linie – man durchaus auch von einem aufklärerischen Impetus sprechen - auf das Publikum und nicht auf die Kunstinteressierten. Erst bei näherer Betrachtung, wenn der diskursive Ansatz erfahren werden kann, wird die Differenz zu den visuellen Standards sichtbar und nachvollziehbar.
Diese Auffassung steht im Bezug zum fotografischen Medium als Gegensatz zur These von Boris Groys, der davon ausgeht, dass sich Fotografie erst im Kunstraum als künstlerisches Werk etablieren kann. In der Außenwelt sei erstens die Konkurrenz zu groß und zweitens der Status des Fotos als Kunst nicht ausdifferenzierbar. Eine Reihe von Beispielen – wie die Aktion "Fremd" in Niederösterreich, 1997, Projekte des "museum in progress" in Wien oder "Publi©Domain" und "Sightseeing", beide in Graz, 2000 bzw. 2003 – widersprechen dieser Ansicht. Vor allem deshalb, weil der Bildbegriff der Fotografie nicht an den klassischen Motiven und deren Rezeption festgemacht werden kann/darf und weil das "künstlerische Foto" im öffentlichen Raum zumindest jene Überzeugungskraft entfaltet, wie sie Steinskulpturen oder anderen monumentalen Objekten automatisch zuerkannt wird. So ist das Foto durchaus in der Lage, an der Konstruktion einer "Kunst im öffentlichen Interesse" mitzuwirken.