Räume des Selbst

 Karin Mack / Astrid Peterle

Text im gleichnamigen Katalog von Karin Mack

Karin Macks Fotografien führen uns in Räume des Selbst. Diese Räume erschließen sich nicht nur in ihren Selbstbildnissen, sondern auch in den Landschaftsbildern, also jenen Fotografien, in denen der Bezug zum Selbst nicht zwangsläufig durch das abgebildete Sujet gegeben ist. Zwar umfangen diese Bildräume oft das Selbst der Künstlerin, wie etwa im Fall der zahlreichen Selbstporträts; doch gerade die Landschaftsausschnitte laden die BetrachterInnen dazu ein, ihr eigenes Archiv von Sinneserfahrungen zu öffnen. Die Räume des Selbst in Macks Œuvre sind breit gefächert: das Selbst im Privaten, das Selbst als Bühne für Dekonstruktionen gesellschaftlicher Rollenzuschreibungen, das Selbst als Spiegelung im Raum, das Selbst als Schatten in der Natur.
    Als Begriff ist das Selbst zugleich gewiss und fragwürdig. PhilosophInnen sind seit jeher damit beschäftigt, zu definieren, was das Selbst ist und sein Wesen ausmacht, ohne freilich eine endgültige Antwort geben zu können. Ebenso lange beschäftigen sich KünstlerInnen mit dem Thema des eigenen Abbildes, sei es in der Selbstbeobachtung, der Selbstbefragung oder der Dekonstruktion des Selbst. Das Medium Fotografie und das ihr eigene komplexe Verhältnis von scheinbarer Realitätswiedergabe und konstruierter Bildwirklichkeit scheint für die künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Themen besonders geeignet zu sein. 
In Karin Macks Œuvre ist das Selbstbildnis eine immer wiederkehrende Konstante . Die Fototheorie, vornehmlich die feministisch motivierte, differenzierte in den letzten Jahrzehnten das „von sich selbst gemachte Bild“ als Selbstbildnis/Selbstporträt beziehungsweise als Selbstdarstellung/Selbstrepräsentation. KunsthistorikerInnen ordnen KünstlerInnen, die sowohl als Objekte wie als Subjekte ihrer Fotografien fungieren, häufig der einen oder der anderen genannten Kategorie von „Selbst-Fotografie“ zu. Bei Mack lassen sich jedoch beide Formen, sowohl Selbstbildnisse als auch Selbstdarstellungen finden. Wodurch unterscheiden sich diese beiden Formen? Als Selbstporträts/-bildnisse werden gemeinhin jene Bilder bezeichnet, die sich auf die abgebildete Person, also die Fotografin beziehen. Als Selbstporträts intendierte Fotografien verweisen auf Emotionen, auf Innerlichkeit und Subjektivität der KünstlerIn. Damit soll nicht die problematische Annahme suggeriert werden, dass ein Selbstporträt Ausdruck eines authentischen Identitätskerns, einer fixen und unwandelbaren „Identitätsessenz“ wäre. Ich verwende bewusst die Wendung „als Selbstporträts intendierte Fotografien,“ da ich hier von dem Zusammenhang zwischen Selbstporträt und Innerlichkeit nur spreche, wenn dieser von der Künstlerin beabsichtigt ist. Problematisch wird der Rückschluss von Selbstporträts auf die Persönlichkeit der sich porträtierenden Person, wenn es fälschlich als Zugang zur Psyche der KünstlerIn  interpretiert wird.
    Als Selbstdarstellungen werden demgegenüber jene Bilder bezeichnet, in denen die KünstlerIn zwar selbst als Modell agiert, der Fokus jedoch außerhalb ihrer selbst liegt: zum Beispiel auf der Darstellung von sozialen und kulturellen Rollen, oder auf der Komplexität von Identität, die stets von verschiedenen Faktoren bestimmt wird (Geschlecht, Ethnie, sozialer Status, kulturelle Verortung, Sexualität etc.). Karin Mack schuf bereits in den 1970er-Jahren – noch bevor sie mit dem Feminismus in Berührung kam – Serien von Selbstdarstellungen, in denen sie sich auf dem Weg zur eigenen Emanzipation mit den vorherrschenden Rollenklischees einer ‚idealen Weiblichkeit’ auseinandersetzte. „Das bin nicht ich, das ist ein Bild von mir“, so betitelte Bodo Hell einen Essay für Macks Publikation ihrer Selbstporträts aus dem Jahr 1985. Hells Formulierung ist besonders für Macks Selbstdarstellungen der 1970er-Jahre treffend gewählt – für das Bild des Ich als Stellvertreter für ein gesellschaftliches Rollenbild, das über das individuelle Ich hinausgeht. Die Formulierung erinnert auch an eine Aussage Roland Barthes, der darauf hinwies, dass die Vielschichtigkeit und der ständige Prozess des Ich-Werdens schwer in einem Foto einzufangen sind: „Mein ‚Ich’ ist’s, das nie mit seinem Bild übereinstimmt; denn schwer, unbeweglich, eigensinnig ist schließlich das Bild [...]; leicht, vielteilig, auseinanderstrebend ist mein ‚Ich’ [...]“.
Mit den Trifogli – dreiblättrigen Fotomontagen aus den frühen 1980er Jahren –scheint Karin Mack die Behauptungen Roland Barthes zu widerlegen und zwar durch einen raffinierten Kunstgriff. Edith Almhofer beschrieb das einmal folgendermaßen: Der Kunstgriff „beruht zu einem nicht unwesentlichen Teil auf einer strengen Kompositionsform, einem strikt eingehaltenen Schema des Arrangements von jeweils drei Einzelbildern, wobei das eigentliche Selbstbildnis immer zwischen ausschnitthaften Ansichten der Außenwelt eingespannt wird. Damit wird oft ein imaginärer Ort konstruiert [...]“.3 Diese ungewöhnliche Technik, die Mack hier in Szene setzt, öffnet einen poetischen Raum, in dem das Ich auf dem Hintergrund möglicher Querbezüge und Assoziationen „leicht, vielfältig und auseinanderstrebend“ erscheint. Es geht in diesen Selbstporträts also nicht um ein Entblättern des Inneren, sondern um die Öffnung eines Assoziationsraumes. Nicht die Kategorie „Frau“ im Allgemeinen oder ihr konstruiertes Idealbild ist hier das Thema, sondern die individuelle Vielschichtigkeit einer Frau.
Lässt man den Blick über das Œuvre Karin Macks, von der Entwicklung der Selbstdarstellungen hin zu den Selbstporträts, von den Negativprints, über die Montagen bis zu den Landschaftsbildern wandern, fällt auf, dass Mack in ihren Fotoarbeiten die Möglichkeiten ihres Mediums auf feinsinnige und einfallsreiche Weise auslotet. Sie geht nach der Prämisse „die Form folgt dem Inhalt“ vor. Sei es, dass sie mit Kameraperspektiven und Spiegelvorrichtungen in Fotoserien der 1970er Jahre zugleich den Standpunkt von Subjekt und Objekt einnimmt, oder Selbstporträts und Objektfotos zu kompositorisch strengen Montagen arrangiert; stets sucht sie für Inhalte, mit denen sie sich beschäftigt, die adäquateste Form zu finden. Besonders deutlich wird diese Vorgangsweise in der extremen Verdichtung von schwarz/weiß und Grautönen in zwei ihrer Arbeiten. 1982 beschäftigt sich Karin Mack mit dem Themenkomplex Abschied, Tod, Erinnerung. Daraus entstand der Zyklus Weiße Schatten auf Schwarzem Schnee. Nun hat die Fotografie nach Roland Barthes an sich schon eine Affinität zum Tod. Er spricht von der Fotografie als ein „Bild, das den TOD hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will.“4 Karin Mack tut aber noch ein Übriges, sie kehrt das Positiv der Fotografien von Menschen in statischer Pose oder von Zäunen herrschaftlicher Privathäuser, in Negativprints um. Diese Bilder haben einen überraschenden Effekt: Sie lassen die Menschen wie ausradierte Erinnerungen erscheinen, ohne sie jedoch auszulöschen. Vielmehr scheint es, dass jedes Detail, jeder Umriss deutlicher heraustritt – so wie in der Erinnerung manches eigenartig scharf und klar und anderes verflüchtigt erscheint.
     2006 führt Mack uns mit der vierteiligen Serie Im tiefen Wald, in das Dickicht eines Waldes, in eine grau schattierte Dunkelheit. Auch wenn das dichte Blättergestrüpp an angstbesetzte Geschehnisse in den Wäldern unserer Märchen erinnert, erzeugt sie nicht einen Eindruck, den wir als Angst bezeichnen müssten. Es scheint als würde es ihr vielmehr um ein Spiel mit dem Ängstlichen in uns selber gehen, vielleicht auch um ein Spiel mit der Lust am Gruseln.
Ab Mitte der 1990er-Jahre begann sich Karin Mack eingehender mit der Landschaftsfotografie zu beschäftigen. Jetzt sind es Landschaftsbilder, die zu Räumen der Selbsterkundung werden, zu „Trägern von Emotionen und Projektionen,“ wie Mack sie selbst bezeichnet. Die Landschaften von Mack sind meist menschenleer, sind keine Dokumente oder Kommentare zu bestimmten Eingriffen des Menschen in die Natur, wie das in den letzten Jahren bei anderen LandschaftsfotografInnen häufig der Fall ist. Der Fokus ihrer Bilder liegt auf dem Stimmungsgehalt, den Farben, auf Strukturen oder dem Lichteinfall. Trotz ihrer poetischen Qualitäten erwecken diese Fotografien nicht den Eindruck einer idealisierten Landschaft.
Die LiteraturwissenschafterInnen Manfred Schmeling und Monika Schmitz-Emans bezeichnen die Landschaft im Allgemeinen als Gegenstand ästhetischer Darstellung: „Der Gegenstand ‚Landschaft’ ist [...] immer ein ästhetisch organisierter, durch ästhetische Darstellungsmittel geprägter Gegenstand, auch dann, wenn er als so genannte ‚natürliche’ Landschaft außerhalb gemalter, gezeichneter oder fotographisch hergestellter Bilder wahrgenommen wird. (Auch wer – beispielsweise als Reisender – eine ‚Landschaft’ betrachtet, betrachtet sie zumindest implizit als potentiellen Gegenstand ästhetischer Darstellung, er nimmt das Gesehene ‚wie ein Bild wahr’).“5 So wie das Selbstporträt als ein „bewusster Blick der Fotografin auf den eigenen Körper“6 bezeichnet werden kann, so zeigen Macks Landschaftsbilder, dass es auch einen bewussten Blick auf die, den Körper umgebende Landschaft geben kann, der auf ähnliche Weise wie das Selbstporträt mit einer Reflexion der Subjektivität verbunden ist – auch wenn in den Landschaftsbildern das Selbst als Offensichtliches aus dem Bild heraustritt und so den BetrachterInnen mehr Raum für die eigene Subjektivität überlässt. Nun könnte man sagen, dass jedes fotografische Landschaftsbild, jede Fotografie überhaupt in gewisser Weise auf ein Selbst verweist, nämlich auf jenes der FotografIn mit ihrem jeweiligen subjektiven Blick auf die Welt. Doch im Fall der Bilder Karin Macks ist die Landschaft im Besonderen mit ihrem Selbst verbunden. Mack beschreibt in einem frühen Erlebnis in der Natur, den Moment auf einem
 Gipfel im Gebirge nach langem Aufstieg: „Diesen Moment, in dem sich mein Bewusstsein in einen Punkt zusammen zu ziehen und gleichzeitig unendlich zu weiten schien, erinnere ich als einen Moment absoluten Glücks.“7 Momente des Glücks scheinen in vielen Fotos von Landschaften und Naturdetails Macks zu liegen – Empfindungen, die sich auf die BetrachterInnen übertragen können. Roland Barthes beschrieb seine Position als Betrachter von Landschaftsfotografien, die Sehnsucht in ihm erwecken, folgendermaßen: „Für mich müssen Fotografien von Landschaften (urbanen oder ländlichen) bewohnbar sein, nicht bereisbar. [...] Beim Anblick dieser Lieblingslandschaften ist es ganz so, als sei ich sicher, dort gewesen zu sein oder mich dorthin begeben zu müssen.“8
Auf ihren Reisen fertigt Karin Mack von Zeit zu Zeit Selbstporträts als Schatten an. Sie verbinden sozusagen ihr Selbst mit der Landschaft. Als Materie ist der Schatten ein merkwürdiges Zwischending zwischen Subjekt und Objekt. Das Genre des Selbstporträts als Schatten nimmt eine ähnliche Zwischenstellung ein: Die Künstlerin will sich nicht selbst in der Fotografie abbilden, möchte ihre Anwesenheit aber dennoch manifestieren. So fängt sie ihren Schatten ein, der als indexikalischer Abdruck dauerhaft auf dem Fotopapier eine Spur hinterlässt. Als Beispiel sei das Selbstporträt als Schatten aus dem Jahr 1972 genannt, aufgenommen in ihrem damaligen Atelier, das einmal mehr Macks feines Gespür für Komposition verdeutlicht: Durch das geöffnete Fenster dringt Licht ein und projiziert die Schatten der Künstlerin und des Fensterrahmens auf den Boden. Die Schattenperspektive des Fensters endet am Fuß eines Bücherregals mit angelehnten Foto-Tableaus, womit sich die flüchtige Schatten-Flächen-Prejektion mit dem manifesten Werk der Künstlerin verbindet. Wie sich ihr Selbst als Schatten auf den Boden ergießt und sich im Raum ausbreitet, so ist sie auch stets in ihren Arbeiten präsent, ob physisch anwesend oder nicht.
Eine weitere Form, die sich gelegentlich in Macks Œuvre findet, sind Selbstporträts im Spiegel. In den Spiegelporträts verschmilzt das Selbst mit dem Raum, ist gleichzeitig manifest und aufgelöst, denn die Kamera verdeckt das Gesicht der Fotografin und macht so das Selbstporträt in gewisser Weise zu einem unpersönlichen. Das Selbst ist sichtbar und gibt sich doch kaum zu erkennen, ähnlich wie in den Schattenporträts.
Man kann sich natürlich fragen, was die Künstlerin bewog, von der Selbstdarstellung zu Spiegel- und Schattenporträts über zu gehen. Tatsache ist, dass Karin Mack 1994 in die Niederlande übersiedelte und damit plötzlich in eine Situation des „Fremdseins“ geriet. Das wirft neue Fragen zur eigenen Identität auf und zum Verhältnis zur neuen Lebensumgebung. Nach eigener Aussage erfährt Mack ihr 11-jähriges „Exil“ in den Niederlanden als Bereicherung und Erweiterung ihrer Persönlichkeit. Scharfe Grenzen gibt es für sie nicht mehr: Wo sie ihren Schatten fotografiert, ist sie in diesem Moment zu Hause - bei sich selbst.





 Siehe zu dieser Thematik Solomon-Godeau, Abigail: Trouble, Gender, Sex. Geschlechter-Ideologien und ihre Manifestationen in der Fotografie. In: Ingelmann, Inka Graeve (Hrsg.): Female Trouble. Die Kamera als Spiegel und Bühne weiblicher Inszenierungen. Ausstellungskatalog der Pinakothek der Moderne, München. Ostfildern 2008, 21-27.

 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (französisch 1980). Frankfurt/Main 1985, 20.
3 Almhofer, Edith: in ‚Die Presse‘ vom 18. Dezember 1985.

4 Barthes, Roland: Die helle Kammer, 103.
5 Schmeling, Manfred; Schmitz-Emans, Monika: Einleitung in dieselben (Hrsg.): Das Paradigma der Landschaft in Moderne und Postmoderne.(Post-)Modernist Terrains: Landscapes – Settings – Spaces. Würzburg 2007, 21.
6 Bronfen, Elisabeth: So sind sie gewesen. Inszenierte Weiblichkeit in den Bildern von Fotografinnen. In : Ingelmann, Inka Graeve (Hrsg.): Female Trouble, 19.
7 Mack, Karin: Felsen, Gebirge. Unveröffentlichter Text 2003.
8 Barthes, Roland: Die helle Kammer, 49f.