Bilder lesen

Martin Breindl

Bilder lesen
Vorwort zum Katalog „visuell virtuell parallel – SchriftstellerInnen fotografieren“.

Texte erfasst man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, geradlinig und richtungsgebunden. Der Blick folgt dem Zeilenverlauf ohne auszuscheren, von links nach rechts etwa, oder auch umgekehrt von rechts nach links, oder oben nach unten, je nachdem in welcher Schriftkultur man sich gerade bewegt. Am Zeilenende springt er zurück zum Beginn der nächsten Zeile, um die selbe Bewegung zu wiederholen. Dieses rhythmisierte immergleiche lineare Fortlaufen des Blicks würden BeobachterInnen wahrscheinlich als „Lesen“ bezeichnen.

Bilder lesen funktioniert jedoch anders. Ziel- und richtungslos springt das Auge von hier nach dort, von drüben nach da, fokussiert mal auf diese Stelle, registriert mal jene; und im Hakenschlagen des nicht einer vorgegebenen Logik unterworfenen Blicks entsteht erst allmählich der Eindruck des Ganzen. Man könnte sagen, dass ein Bild im Flanieren sich enthüllt. Im dislozierten Umherwandern der Betrachtenden.

Um ein mir vorliegendes Artefakt visuell erfassen und damit verarbeiten zu können, muss ich es zuerst lesen, egal ob es sich um einen Text oder um ein Bild handelt. Dies bedeutet aber wiederum, dass es zuvor von jemand aufgeschrieben werden musste, mit Hilfe von Schriftzeichen oder aber auch einer Kamera, um nur zwei einer Vielzahl von Kulturtechniken zu nennen, mit denen man Realität (re)produzieren kann. Nun ist vielerorts richtig darauf hingewiesen worden, dass kein Medium, keine damit verbundene Technologie neutral ist. Jedes Medium verändert die durch es beschriebenen Inhalte, so dass Form und Inhalt untrennbar miteinander verkleistert werden.

Was bedeutet das für die Fotografien von SchriftstellerInnen, also von jenen, die normalerweise nicht mit Fotoapparaten und Kameras schreiben? Können wir Besonderheiten ausmachen, Unterschiede zu den Bildwerken von FotografInnen, deren Selbstverständnis sich im Umgang mit diesem Medium ausdrückt?

Auf den ersten Blick scheint da nicht viel anders zu sein. Die Arbeiten der hier versammelten SchriftstellerInnen umkreisen die gleichen Themen, wie Natur, Urbanität, Medienkritik und Virtual Reality. Auch die gewählten Motive, Einstellungen und Techniken unterscheiden sich nicht wesentlich von Produktionen ihrer KollegInnen aus der fotografischen Zunft.

Bei längerem Betrachten der Werke sickern jedoch Hinweise durch. Bild für Bild entsteht der Eindruck als ob sie genau so hakenschlagend geschrieben würden wie sie gelesen werden können. Auf klassische Regeln des Bildaufbaus wird hier gepfiffen, morphologische und inszenatorische Überlegungen außer Acht gelassen. Und so entstehen seltsame Urbanitäten, die Menschen an den Rand drängen, ins Bodenlose fallende Innenräume, anders gestimmte Naturen, unverhältnismäßige Verzerrungen, Texturen und Strukturen. Es gibt kaum Gemeinsamkeiten in den Herangehensweisen der hier beteiligten schreibenden FotografInnen, jedoch Abgrenzungen zu denen der bildenden, die das wahrscheinlich so nicht darstellen würden.

Man muss zwischen den Zeilen lesen können um diese Abgrenzungen zu bemerken, so fein und so unscheinbar sind sie, so unprätentiös kommen sie daher. Doch die Hinweise sind zahlreich, semiotischen Ankern gleich, die uns festhalten und doch in einen Bereich driften lassen, der jenseits dieser Bilder liegt. Und das erscheint mir als das Besondere: Wenn SchriftstellerInnen fotografieren, schreiben sie ihre Bilder metaphorisch. Es sind in gewissem Sinn absolute Metaphern, nicht absichtsvoll gewählt, sondern mehr oder weniger zufällig entstanden im und durch den Akt des Fotografierens selbst. Sie sind nicht übersetzbar, somit auch nicht moralisch, gehorchen allein der hakenschlagenden bildsprachlichen Logik. Indem sie das tun, erzählen sie oft mehr darüber, wie menschliches Fühlen, Denken und Handeln funktioniert als so manches kunstvoll konstruierte Bildwerk.

Und das ist die Herausforderung an jede/n von uns: diesen Metaphern hakenschlagend hinterher zu jagen, um die Bilder erfassen zu lernen. Und zu begreifen was wir letztendlich sind: LeserInnen.

Februar 2010